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01 juin 2011

Ian Bostridge über das Hören von Musik und mehr

par Philharmonie Luxemburg

Wir befinden uns jetzt gerade in der Pause zwischen den beiden Hälften der Masterclass für Liedgesang [mit Ian Bostridge und Julius Drake am 21. Mai 2011 in der Philharmonie Luxembourg]. Nehmen wir für einen Moment an, dieses Gespräch wäre Teil einer Masterclass für Zuhörer, bei der es darum geht, wie man The Rape of Lucretia am besten hören kann. Was ist Ihnen am wichtigsten beim Anhören dieses Werks?

Ich denke, das Wichtigste ist, sich klarzumachen, dass es auf eine sehr formelhafte, sehr befremdende Weise gebaut ist: Es wird erzählt von einem «Männlichen Chor» und einem «Weiblichen Chor», die dem Publikum eine Menge an historischer Information mitteilen. Das Ganze ist musikalisch sehr stilisiert, und auch die erste Inszenierung war stark stilisiert. Es kommt in erster Linie darauf an zu spüren, dass die beiden «Chöre» eigene Charaktere sind und dass sie sich durch das Stück hindurch auf einer emotionalen Reise befinden.

Was bedeutet es für Sie, wenn Sie in der Rolle eines «Chors» singen?

Es bedeutet herauszufinden, was der emotionale Affekt jeder einzelnen Stelle ist und welche Haltung jeweils eingenommen wird – zu Beginn stehen beide Chöre ziemlich am Rande, sie werden mehr und mehr in die Geschichte hineingezogen. Der «Weibliche Chor» identifiziert sich weitgehend mit den weiblichen Rollen, und ich denke, dass der «Männliche Chor» zunächst sehr ungehalten über die männlichen Rollen ist und es erst gegen Ende schafft, eine produktivere Haltung einzunehmen – darin steckt gewissermaßen ein Wesenszug der Christianisierung, die letztlich den Kern der Geschichte bildet: Es geht darum, das Positive im Negativen zu entdecken.

Verkörpert der «Chor» eine Art «Common sense»?

Nein, keineswegs …

… oder steht er eher für eine individuelle Position in dieser Konstellation?

Ich glaube, dass er am Anfang von den Vorgängen im römischen Lager ziemlich angewidert ist; diese großmäuligen Männer, die mit ihren sexuellen Eskapaden angeben und damit, wem sie alles Hörner aufgesetzt haben, findet er geschmacklos. Er selbst ist eher puritanisch, denke ich. Doch ich habe den Eindruck, dass er im Verlauf der Oper in gewisser Weise eine Art von Erlösung findet, auch wenn ich nicht genau benennen kann, wie das vor sich geht.

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Für mich ist das Musikhören schlichtweg alles

Beim Publikumsgespräch in der Philharmonie haben Sie vorgestern erzählt, dass Sie praktisch während Ihrer gesamten Jugendzeit Aufnahmen von Dietrich Fischer-Dieskau angehört haben. Was würden Sie dem Luxemburger Publikum mit auf den Weg geben wollen zur Bedeutung des Hörens von Musik?

Für mich ist das Musikhören schlichtweg alles, es ist unglaublich wichtig. Ich habe nie ein Instrument gelernt oder Musik studiert; ein großer Teil meiner Begeisterung für Musik kommt aus dem Anhören von Aufnahmen. Eines der Probleme heute ist, dass wir heute kaum noch Musik so hören wie früher. Das ist dasselbe wie bei Büchern – wir haben elektronische Medien, wir haben Zugriff auf wirklich alles, was man sich je anhören wollen würde, und das Ergebnis davon ist, dass wir nichts davon mehr anhören. Wir hören kleine Ausschnitte, gehen auf YouTube, schauen uns etwas kurz an und werden dann von etwas anderem abgelenkt. Darin sehe ich eine Gefahr für die Zukunft.

Wenn man in ein Konzert geht, ist das anders.

Ja, und Konzerte laufen ja auch heute sehr gut. Vielleicht ist die Zeit der früheren Formate vorbei – das Zeitalter, in dem viele Leute Musik auf eine sehr konzentrierte Weise kennengelernt haben. Sich hinsetzen und eine ganze Oper auf Platte anhören – ich denke, dass man das heute kaum noch tut. Vielleicht liegt der Schwerpunkt jetzt mehr auf Live-Aufführungen. Das finde ich gut.

 

Die Reaktionen der Kinder sind unmittelbar und echt

Zum Abschluss eine Frage, die eigentlich keine ist: Vielleicht möchten Sie die Gelegenheit nutzen für eine Art Zwischen-Rückblick auf Ihre Residency an der Philharmonie Luxembourg.

In gewisser Weise war «Loopino» [sechs Aufführungen mit Liedern und Arien von Händel, Haydn, Schubert, Schumann und Chabrier für Kinder im Alter von 3 bis 5 Jahren] für mich das Spannendste. Da wusste ich vorher nicht, wie sich das bewerkstelligen lassen würde – ich hatte lediglich das Vertrauen, dass es klappen würde. Aber es war für mich eine wirkliche Lektion zu sehen, dass sich diese Musik wirklich jedem Menschen nahebringen lässt.

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Sie hatten vorher auch einmal von den aufschlussreichen Reaktionen des jungen Publikums erzählt.

Das ist ganz einfach: Man merkt, wenn junge Zuhörer gelangweilt sind. Und wenn sie es nicht sind, weiß man, dass man etwas richtig gemacht hat. Man kann sie nicht hinters Licht führen, man kann sie nicht mit irgendwelchen Tricks dazu bringen, etwas zu mögen, ihre Reaktionen sind sehr unmittelbar und echt. Und das ist etwas, das für Interpreten sehr wertvoll ist.

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Ihr könnt das gesamte Interview, das unser Dramaturg Bernhard Günther mit Ian Bostridge geführt hat, im Abendprogramm des Konzertes vom 19. Juni lesen. Dieses findet ihr einige Tage vor dem Konzert als PDF auf unserer Internetseite oder am Abend selbst im Foyer der Philharmonie.