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16. September 2011

Ein Wunder an Leichtigkeit: Jean-Guihen Queyras

von Philharmonie Luxemburg

Jean-Guihen Queyras - photo (c) François Sechet Jean-Guihen Queyras - photo (c) François Sechet

Fans brasilianischer Ballzauberer oder großer klassischer Instrumentalvirtuosen wissen sofort, was das italienische Sprichwort „Quando il gioco si fa duro, i duri cominciano a giocare“ bedeutet – auch wenn es sich passenderweise nicht leicht übersetzen lässt: Höllisch schwierige Dinge sehen in den richtigen Händen auf einmal ganz leicht aus. Eine gute Gelegenheit, hier einen Blick auf den unglaublichen Solisten der beiden Konzerte des OPL am 22. und 23. September 2011 zu werfen.

Auch der nicht minder unglaubliche Dirigent Jiří Bělohlávek darf im Sinne dieses italienischen Sprichworts zweifellos als einer der „härtesten Jungs“ unter den heutigen Dirigenten gelten (wie man beispielsweise anhand seiner hauchzarten Interpretation von Mahlers theoretisch tonnenschwerer „Symphonie der Tausend“ bei der First Night of the Proms 2010 erahnen kann). Dass ich mich hier unter dem Stichwort „Ballzauberer“ ganz auf den Cellisten Jean-Guihen Queyras beschränke, liegt nicht daran, dass dieser gerne Fußball spielt, sondern zunächst einmal an seinem Instrument.

Dass selbst hervorragende Musiker auf einem Cello nicht ohne weiteres wie Paganini spielen können, zeigt schon ein ganz einfacher Größenvergleich: Bei der Geige sind die schwingenden Saiten gerade einmal knapp 33 cm lang, beim Violoncello um die 70 cm – anders ausgedrückt: Cellisten haben mit ihrer linken Hand mehr als doppelt so weite Wege zurückzulegen wie Geiger. (Und, kleine Randbemerkung für eher auf dem Gitarrensektor beheimatete Leser, das Ganze natürlich „fretless“, sprich: mit mehr als doppelt so großem Risiko, knapp daneben zu greifen.) Diese Größe hat den Vorteil, dass ein Cello in den richtigen Händen einfach (pardon, meine Damen und Herren Geiger) besser klingen kann. (Msistislav Rostropovich erzählte einmal mit genüsslichem Seitenhieb auf seine geigenden Kollegen, wie ihn eine in höchsten Höhen sirrende Mücke in einem Hotelzimmer nervte.) Es hat allerdings auch den Nachteil, dass gerade die hohen, schnellen, leichtfüßigen, „geigerischen“ Passagen so mancher Cellostücke in den falschen Händen (pardon, meine Damen und Herren Cellisten) leider viel schlechter klingen als auf der Geige.

Als würde man einen Holzklotz mittlerer Größe in ein Champagnerglas fallen lassen

Schluss mit dem Allgemeinen, her mit den Hörbeispielen, und zwar anhand von zwei berühmt-berüchtigten Stellen der Celloliteratur. Joseph Haydns C-Dur-Cellokonzert, letzter Satz. Eine Minute lang dürfen die Orchestergeigen zeigen, was spritzige Leichtigkeit ist, dann ist das Solocello an der Reihe. Wenn man Pech hat, klingt das so, als würde man einen Holzklotz mittlerer Größe in ein Champagnerglas fallen lassen. Die Amateure seien hier verschont; wer an einem Blick in den Proberaum interessiert ist, mag sich anschauen, wie Lynn Harrell in einer Masterclass die Tücken der Stelle mit einer talentierten Studentin bearbeitet. Aber auch auf hohem professionellem Niveau lassen sich deutliche Unterschiede in der Eleganz spüren. Da gibt es Interpretationen, die etwas von einem bravourösen Kraftakt haben, beispielsweise Mischa Maisky mit der Kremerata Baltica. Solche, die den Spaß einer sportlichen Leistung mit gelegentlichen kleinen Fouls (1:22) vermitteln, wie bei Han Na Chang. Elegante, entspannte, fast melancholische Versionen wie bei Pierre Fournier,  oder auch erdenschwere, bei halsbrecherischem Tempo ein wenig „den Elementen abgetrotzt“ wirkende Fassungen, beispielsweise von Rostropovich.

Wenn das Ganze locker, federleicht, präsent und präzise geformt herauskommt, darf das als wirkliche Sternstunde gelten – das merkt man (in übrigens noch höherem Tempo) bei Jean-Guihen Queyras mit dem Freiburger Barockorchester (18:35), sogar in der anti-audiophilen YouTube-Yoghurtbecherklang-Version (und um so mehr dann in der 2004 bei Harmonia Mundi erschienenen CD).

Zweitens: Franz Schubert, „Arpeggione“-Sonate. Ein wirklich gemeines Beispiel, denn die wurde eigentlich für ein (längst ausgestorbenes) Instrument geschrieben, das eine Art Kreuzung aus Cello und Gitarre war und sozusagen über zwei hohe Bonus-Saiten verfügte. Nicht, dass die hohen Töne auf dem Arpeggione wirklich gut geklungen haben, oder gar die tiefen auf der Bratsche,  auf welcher die Sonate auch immer wieder gespielt wird. Aber die meisten Cellisten müssen sich für dieses Stück spürbar „ins ewige Eis“ begeben, und dort setzen auch herausragende Alpinisten gern einmal mal die Sauerstoffmaske auf. Der in Sachen Höhenluft immer noch als nahezu unerreichtes technisches Wunder geltende Emanuel Feuermann (1902–1942, hier mit Gerald Moore am Klavier) behalf sich in diesem Fall mit weiten, skischwungartigen Glissandi, die heutigen Ohren doch ein wenig exotisch anmuten. Eine andere, für Cellisten nicht untypische Reaktion ist, dunkel singend und mit zuweilen etwas überexpressiven Tempo- und Stimmungswechseln auf die Herausforderung zu reagieren (so in dieser historischen Einspielung von Rostropovich mit Benjamin Britten am Klavier). Schubertsche Leichtigkeit ist halt noch viel schwerer als Haydns Witz auf dem Cello zu zaubern – die harte Arbeit ist auch einer so gelungenen Interpretation wie der von Miklós Perényi und András Schiff anzusehen.

„Quando il gioco si fa duro, i duri cominciano a giocare“

Kurz: Für mich persönlich war die „Arpeggione“-Sonate eigentlich ein hoffnungsloser Fall – bis mir die 2006 erschienene Einspielung von Jean-Guihen Queyras und Alexandre Tharaud, in die Hände fiel, die mich mit Schubert wieder versöhnt hat. Die Leichtigkeit, die zur Zeit der berühmten Cellistengeneration von Paul Tortelier, Maurice Gendron, André Navarra und Pierre Fournier als Markenzeichen der französischen Tradition galt, ist in dieser Aufnahme definitiv spürbarer als früher (zu erwähnen sind da auch noch seine CDs der Bach-Solosuiten und des Dvořak-Cellokonzerts, das er übrigens mit Jiří Bělohlávek eingespielt hat). Hier ein kleiner Vorgeschmack auf den leichtesten Schubert aller Zeiten aus einem Arte-Live-Mitschnitt.

Schluss jetzt. Ich bin sehr gespannt, wie am 22./23. September das OPL mit diesem Solisten (und diesem Dirigenten) das Schumann-Konzert spielen wird – eines dieser höllisch schwierigen Stücke, die in den richtigen Händen auf einmal ganz leicht aussehen können.

Bernhard Günther