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16. April 2019

Mythischer Orchesterklang

von Tatjana Mehner

Über den Klang der Romantik und Postromantik und den Weg zu ihm

Das 19. Jahrhundert ist die Geburtsstunde des Symphonieorchesters, wie wir es heute kennen. Der Geburtsort: Europa, und dies tatsächlich fast flächendeckend in den Zentren bürgerlicher Kultur.

Wohl an keinem anderen Punkt in der Musikgeschichte hat der technische Fortschritt die ästhetische Entwicklung so einschneidend geprägt wie im Laufe des 19. Jahrhunderts im Hinblick auf den Instrumentenbau, dessen Arbeitserfolge sich unmittelbar auf die Etablierung moderner Orchester auswirkten. Vieles von dem, was sich in der Entwicklung des Orchesterklanges im 19. Jahrhundert tat, war wohl schlicht technischem Fortschritt geschuldet. Fraglos aber stand dieser in Wechselwirkung zu einer Nachfrage – seitens der Spieler selbst, bei denen sich der Wunsch nach Perfektionierung mit jenem nach Erleichterung gedeckt haben mag; vor allem aber auch seitens der Komponisten, die der Einlösung klanglicher Visionen immer näherkommen wollten.

Heinrich Stölzel hatte im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts an der Entwicklung eines Ventilsystems gearbeitet, das nicht nur das beispielsweise mit dem Horn erreichbare Tonspektrum entscheidend erweiterte, sondern generell zu einer erheblich größeren Klarheit der Artikulation beitrug. Erst hierdurch wurden die großen Blechbläsersätze der (insbesondere deutschen) Romantik ermöglicht.

Auch was den Streicherapparat angeht, tat sich Wesentliches im Laufe des 19. Jahrhunderts. Die Ummantelung der Saiten mit unterschiedlichen Metallen setzte sich allmählich überall durch und damit die Möglichkeit, immer präziser zu intonieren. Damit erhöhte sich auch die Chance, Homogenität immens zu steigern, wodurch eben auch immer mehr Streicher wohlklingend zusammenspielen konnten.

Neben den permanent wachsenden Ansprüchen von Komponisten waren es auch die gleichzeitig steigenden räumlichen Bedürfnisse und Möglichkeiten, die diese Entwicklung beförderten: Immer größere Säle konnten und sollten mit Klang gefüllt werden. Ihr Prunk wollte sich nicht selten mit der höfischen Architektur messen. Mit der kulturellen Selbstbestätigung des bürgerlichen Publikums schien ein Bedürfnis nach klanglicher Opulenz einherzugehen, das wiederum gespeist wurde durch die neuen Techniken.

Insofern erscheint auch die Tatsache, dass die Gründung zahlreicher großer symphonischer Orchester in diese Zeit des 19. Bis frühes 20. Jahrhundert fällt, kaum zufällig; die aufstrebenden Industrie- und Handelsstädte mit ihrem erstarkenden Bürgertum entwickelten ihre Vorstellungen einer musikalischen Kultur und leisteten sich diese. Konzerthäuser wurden mehr und mehr wirkliche Funktionsbauten, die einer wachsenden Zahl an Hörern adäquate Plätze offerierten.

Und je mehr solcher Musik auf einem gewissen Niveau gefragt wurde, desto stärker vollzog sich eine Professionalisierung des Musikerberufs. Das allgemeine soziale Bedürfnis nach Musik in den Bürgerstädten konnte nicht mehr allein durch – im besten Wortsinne – Amateure befriedigt werden, wie zu Anfangszeiten beispielsweise der Berliner Singakademie oder des Leipziger Gewandhauses.

Das macht auch die Literatur für großes romantisches Orchester zu einem bürgerlichen Phänomen, selbst dann und selbst da, wo sich die Gründung und Entwicklung der Klangkörper noch immer in Beziehung zu einem Fürstenhaus vollzieht.

Bayreuther Festspielhaus | Quelle: https://loves.domusweb.it/wagner-inspiration/ Bayreuther Festspielhaus | Quelle: https://loves.domusweb.it/wagner-inspiration/

Das unsichtbare Orchester

Nicht zuletzt war es aus einem solchen zutiefst durch ein bürgerliches Bewusstsein geprägten Denken heraus, dass Richard Wagner sein Konzept eines Kunstwerks der Zukunft entwickelte, vor allen Dingen bezogen auf ein musiktheatrales Gesamtkunstwerk, das in seiner Kunstphilosophie in gewisser Weise den Stellenwert eines ästhetischen Gipfelpunktes einnimmt.

Kompromisslos wollte er ein Ganzes schaffen, das nicht nur mehr sein sollte als die Summe seiner Teile, sondern das vielmehr überhaupt nicht mehr in solche Teile zerlegt werden können sollte. Natürlich war das idealtypisch gedacht, und auch Wagner selbst folgte dem Prinzip nicht übermäßig strikt. Wesentlich blieb: Musik und Bühnengeschehen sollten aus einem Guss sein, musikalische und dramatische Kunst sollten im Sinne des Ausdrucks ineinander aufgehen. Der herausgehobene Charakter von Arien und Ensembles insbesondere mit Blick auf deren das Bühnengeschehen aufhaltende virtuose Gebärde sollte aufgehoben werden.

Verbunden war das auch mit deutlichen akustischen Zielen: Wagner ging es um klangliche Geschlossenheit und Textverständlichkeit zugleich… Insofern hatte der Meister gleich zwei Gründe, das Orchester beim Bau seines Festspielhauses in Bayreuth unsichtbar werden zu lassen. Einerseits sollte es nicht vom Bühnengeschehen ablenken, keine Barriere zwischen Zuschauer und Aktion sein. Andererseits sorgt die komplizierte überdachte Bauweise für ein einzigartiges Mischverhältnis, das die berühmte Bayreuther Akustik ausmacht, die nicht zuletzt inspiriert ist durch die Entwicklung des romantischen Orchesterapparates und die Erfahrungen damit in traditionellen Opernhäusern, in denen dennoch mit kontinuierlichem Erfolg und anerkannter Qualität Wagner gespielt wird.

Bayreuther Bühnenbilder. Der Ring der Nibelungen. Götterdämmerung, III. Aufzug Schlussbild | Max Brückner, Druck Otto Henning AG Bayreuther Bühnenbilder. Der Ring der Nibelungen. Götterdämmerung, III. Aufzug Schlussbild | Max Brückner, Druck Otto Henning AG

Konzertante Aufführungen Wagnerscher Musikdramen – im Ganzen oder in Teilen – haben aber genauso eine in die Zeit Wagners zurückreichende Tradition in aller Welt und stellen, nicht zuletzt des herausfordernden Orchesterparts wegen, eine dankbare Aufgabe für die großen Konzertorchester dar.

Bravourstücke für großes Orchester

Arien und Ensembles, die aus dem Gesamtgeschehen herauslösbar waren, Bravourstücke für Sänger, die Szenenapplaus provozieren, waren Richard Wagner ein Dorn im Auge. Für ihn standen sie dem ästhetischen Anspruch seines Gesamtkunstwerkes diametral entgegen. Dergleichen erschien als der Inbegriff der von ihm so verachteten französischen und italienischen Oper.

Daher vermied er es nach und nach vollständig, Sänger mit derartigen vokalakrobatischen Glanzpunkten zu versorgen. Die durch ihn eingeführte neue Behandlung der Sängerstimme ließ auch einen Großteil der Interpreten das Interesse daran verlieren, Einzelnummern zum eigenen künstlerischen Profit aus dem Kontext zu reißen. Doch offenbar richtete sich Richard Wagners Misstrauen bezüglich der Herauslösung von Bravourstücken aus dem dramatischen Kontext ganz besonders gegen Sänger, mit denen ihn im Ringen um die Umsetzung seiner ästhetischen Ansprüche ohnehin eine Art Hass-Liebe verband, wie durch zahlreiche Anekdoten nachhaltig belegt ist. Obendrein war er Geschäftsmann genug, um den Nutzen handlicher musikalischer Leckerbissen zu schätzen.

Und so sind gerade die großen Orchesterstücke im Ring des Nibelungen nicht nur ohne weitere Probleme aus dem Werkkontext extrahierbar, sie zählen auch noch zu jenen Bestandteilen, die mit dem größten Wiedererkennungswert ausgestattet sind – sei dieser rhythmischer (wie bei Siegfrieds Rheinfahrt und Trauermusik) oder harmonischer (Tagesgrauen) Natur. Die konzertante und unabhängige Aufführung dieser Stücke hat eine ebenso lange wie eindrucksvolle Tradition, die die Namen großer Dirigenten wie Orchester einschließt und bis in die Entstehungszeit der Musiktheater-Tetralogie zurückreicht.

An die Grenzen der Komplexität – Das spätromantische Orchester

Je stärker eine allgemeine Vorstellung vom Klang und den Möglichkeiten des romantischen Orchesterklanges Form gewinnt, um so interessanter wird es auch, innerhalb wie außerhalb dieses Klangbildes zu differenzieren, Spezialisierungen zu entwickeln.

Hatte man bis dahin das Repertoire als solches mit den verfügbaren Mitteln seinem jeweiligen Publikum präsentiert, so begann man nach und nach die zu Gebote stehenden Möglichkeiten immer stärker ins Verhältnis zur gespielten Literatur zu setzen und vor allem auch an einem jeweils lokalen orchestralen Klangcharakter zu arbeiten, der wiederum in Beziehung just zum dominierenden Repertoire stand. Orchester beginnen sich über ihr spezielles Klangbild zu definieren, das wiederum ins Verhältnis zu einem bestimmten Repertoire gesetzt wird.

Es ist spätestens um die Wende zum 20. Jahrhundert, dass man glaubt, vom Klangbild beispielsweise eines ‹Wagner›- oder ‹Strauss-Orchesters› reden zu können, dass der Streicherapparat eines bestimmten Ensembles dem Stil eines konkreten Komponisten besonders entgegenkommt und so fort.

Ein Prozess der Ausdifferenzierung repertoirebezogener Orchesterklangbilder beginnt, der teilweise bis in die Gegenwart anhält. Hier knüpfen nicht zuletzt auch die Vorstellungen historisch informierter Aufführungspraxis an, denen ja letztlich der Gedanke innewohnt, dass das Klangbild eines bestimmten Repertoires das Ergebnis des technischen Standes seiner jeweiligen Entstehungszeit sein muss.

  • An den Wurzeln, fern der Tautologie – Carl Philipp Emanuel Bachs Orchester-Symphonien

    Orchester-Symphonien oder Symphonien für Orchester betitelte Carl Philipp Emanuel Bach die Werke jener Gruppe von Instrumentalkompositionen, deren erste auch das heutige Konzert eröffnet. Heute mag das für manchen – auch versierteren – Konzertbesucher merkwürdig anmuten, fast schon wie eine Tautologie. Denn was läge aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts näher, als dass es sich bei einer Symphonie um ein umfängliches Orchesterwerk handelt. Historisch gesehen ist dieser Sachverhalt allerdings weit weniger absurd; markiert der wohl bekannteste Sohn Johann Sebastian Bachs mit seinem Instrumentalwerk insbesondere dieser Zeit einen entscheidenden Meilenstein auf dem Weg zu einer in unserem heutigen Sinne eigenständigen – in Ansätzen gar absoluten – Orchestermusik. Verstand man im Barock unter Symphonie vor allem und ganz besonders eine dreiteilige Ouvertürenform mit langsamem Mittelsatz und schnellen Außensätzen, wie man sie innerhalb der verschiedensten sakralen und weltlichen Gattungen eben als Einleitungsstück findet.

    Im Übergang zum galanten Stil bzw. der Frühklassik verselbständigt sich diese Form und gewinnt mehr und mehr eigenständigen Gattungscharakter. Carl Philipp Emanuel Bach kann wohl mit Fug und Recht als einer der Hauptrepräsentanten dieser Epoche und mit seinen Symphonien als Vorreiter dieser (immer noch überwiegend dreisätzigen) Gattung gelten, in der sich – wie auch in der D-Dur-Symphonie Bachs – mehr und mehr ein immer komplexer werdender Umgang mit dem Orchester als in sich geschlossenem Virtuoseninstrument Bahn bricht. Nicht nur eine wachsende Dichte innerhalb der Partitur ist hierfür deutliches Indiz, sondern ein zeittypisch wachsendes Selbstverständnis, dass Musik und eben dieser Orchesterklang selbstredend für sich allein stehen kann.

  • Rückversicherung in der Tradition – Arnold Schönberg und der romantische Apparat

    Geht man der Frage nach, warum der Hauptvertreter der Zweiten Wiener Schule auf dem Weg zu seiner strengen Kompositionstechnik in seinen Gurre-Liedern nahezu alle Möglichkeiten ausreizt, die der romantische Orchesterapparat bietet – und dies in jeglicher Dimension –, so kommt man schnell auf ein Phänomen zu sprechen, das den Anspruch des Modernistischen von jeher begleitet – eine Art Rückversicherung in der Tradition in Verbindung mit dem vollständigen Ausreizen des Realisier- und Rezipierbaren. Innovation auf der einen Seite erfordert immer eine gewisse Verankerung im Tradierten auf der anderen. In ausdrucksmäßiger ebenso wie in technischer Hinsicht treibt Schönberg das verfügbare Material an einen Punkt, an dem sich eine Traditionslinie nicht mehr als solche fortsetzen lässt und stellt gleichzeitig unter Beweis, dass er Meister dieses Materials ist. Dies verbindet Schönberg mit Zeitgenossen von Schreker bis Strauss, von Berg bis Elgar, die zwar nicht alle in der gleichen Radikalität mit der entsprechenden Tradition brechen, aber in deren Biographien sich an jeweils unterschiedlichen Punkten ähnlich ambivalente Dialoge mit dem etablierten Kanon wiederfinden lassen.

    Bei aller musikalischen Innovation spiegelt sich darin natürlich auch wieder und wieder das Bekenntnis zur großen bürgerlichen Konzerttradition, die als solche durch die Vertreter der Schönberg-Schule auch niemals wirklich in Frage gestellt wurde. Das Interesse an einer Ausweitung der Mittel und Möglichkeiten, an der Schaffung neuer kompositorischer Prinzipien stellt in keinem Moment den sozialen Rahmen und die etablierten Formen musikalischer Kultur in Frage. Insofern erscheint es nicht verwunderlich, dass gerade bei Schönberg, Berg und Anton Webern der romantische Orchesterklang und damit eine Säule bürgerlicher Musikkultur eine Art Bestätigung erfährt.

Tatjana Mehner arbeitet seit 2015 als Programme Editor in der Philharmonie Luxembourg. Sie studierte Musikwissenschaft und Journalistik, promovierte 2003 an der Universität Leipzig und war als Publizistin und Forscherin in Deutschland und Frankreich tätig.

Konzerte

  • 03.05.2019 20:00 Uhr

    Gustavo Gimeno / Anna Larsson / OPL

    Liegt in der Vergangenheit

    Einen gewaltigen Bogen über die Musikgeschichte schlägt das Orchestre Philharmonique du Luxembourg am 03.05. unter seinem Chefdirigent Gustavo Gimeno und zeigt überraschende klangliche Bezüge zwischen völlig unterschiedlichen Zeiten und Stilen auf: Ein spätromantischer Schönberg in Auszügen der Gurre-Lieder tritt wie selbstverständlich in Beziehung zum dramatischen Sound der Orchesterstücke aus Wagners Götterdämmerung, die wiederum den Drei Orchesterstücken von Alban Berg gegenüberstehen und all das mit einem Startpunkt im 18. Jahrhundert Carl Philipp Emanuel Bachs. In Begleitung des OPL tritt die für ihre außerordentliche Intensität bekannte Mezzosopranistin Anna Larsson die musikhistorische Expedition an.