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21. Februar 2019

Zur Beziehung von Bühne und Musik

von Tatjana Mehner

Couleur locale, heimliches Drama und Kommentar
Von der langen und abwechslungsreichen Beziehung von Bühne und Musik

Hört man – quasi in einem Atemzug – die Worte «Musik» und «Theater», fügen diese sich im Unterbewusstsein der meisten Menschen fast schon automatisch zu «Musiktheater» zusammen und wecken gleichzeitig die Assoziation «Oper», vielleicht mit Blick auf die Gegenwart auch noch «Musical» oder gegebenenfalls «Operette». So bleiben vielfältige subtile Interaktionsformen von Musik und Theaterbühne außen vor, werden weite Teile der Geschichte der Künste vergessen, die bis in die Ausformungen und Theorien, ja sogar in die Repertoires der jeweils «reinen Kunstformen» hinein zurückwirken, wie in die Spielpläne symponischer Orchester der Gegenwart.

Die Gründe für ein solches Bild liegen auf der Hand: Die Dominanz des 18. und 19. Jahrhunderts in der (musik)historiographischen Wahrnehmung und der soziale Stellenwert der Gattung Oper als einer Königsdisziplin an der Schnittstelle zwischen den Künsten. Dennoch sind die beiden Werke, die im heutigen Konzert in Beziehung treten, solche, die gerade an den Rändern – und zwar an sehr gegensätzlichen Rändern – des Interaktionsfeldes von Musik und Theater eine entscheidende Eigendynamik entwickelt haben bzw. bis heute zu entwickeln vermögen.

Betrachtet man die Beziehung der beiden ungleichen, aber dennoch gleichermaßen aufführungs- und damit also zeitorientierten Kunstformen genauer, so kommt man schnell einer überaus beeindruckenden Liebesgeschichte auf die Spur, einer Geschichte, die geprägt ist von Abhängigkeit und Dominanz, von Emanzipation und Nachgeben, von Forderung und Hingabe, Leidenschaft und von einem steten Wechselspiel der Rollen, von der Merkwürdigkeit eines Miteinanders, das sich nicht ohne den sozial-politischen Kontext verstehen lässt.

Von einer Musik fürs Theater zum Musiktheater und zurück

Obwohl eine Aufführungskunst par excellence, kommt die Musik im Allgemeinen auch ohne die Bühne im dramatischen Sinne aus – auch wenn ihr ein Aspekt des Theatralen fraglos niemals abzusprechen sein mag. Was das Theater und sein Verhältnis zur Musik betrifft, so ist das hingegen grundsätzlich anders. Ein Blick in die Geschichte der darstellenden Kunst macht mehr als klar: So ganz ohne Musik hat sie niemals sein können, auch wenn sich deren Erscheinungsweise und Funktion nicht nur mit den technischen Möglickeiten verändert hat.

Natürlich wissen wir, dass die Sprechgesänge des Chores in der antiken Tragödie nicht mit Musik im elaborierten Sinne der Gegenwart gleichzusetzen sind, dennoch haben sie eine ausdrücklich musikalische Allusion. Kommentarfunktion zieht sich als eine zentrale Aufgabe durch die Geschichte der Musik im Theater von der Antike bis in die Gegenwart. Deftigere Gesänge im Volkstheater vom Mittelalter bis heute machen hier keine Ausnahme. Hinzu kommen natürlich die reichhaltigen Momente, in denen Musik selbst zum Handlungsbestandteil wird – Tänze, (Auf-)Märsche, Prozessionen und natürlich Lieder sind hier wohl die offensichtlichsten Formen… Im Drama der Klassik begegnen uns solche Elemente mit einer sehr klaren dramaturgischen Funktion. Darüber hinaus ist es durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder auch Musik, die dem Schauspiel eine gewisse Rückversicherung gewährt, wenn es um die – latente – Beschreibung einer bestimmten Couleur locale geht. Sei es in Form von Exotismus – der Zuschreibung eines bestimmten Stiles auf bestimmte Volksgruppen oder Nationen – oder im Theater der Gegenwart sogar im Sinne subkultureller Zuschreibung – mit volkstümlichem Schlager lässt sich ebenso eine Subkultur ohne große Worte beschreiben wie mit Punk-Musik.

Vaudeville und Couplet ziehen sich als Formen musikalischer Darbietung ebenfalls hartnäckig durch die Geschichte des Theaters, und auch die Oper als die Form des Musiktheaters hat Vorläufer, die erheblich weiter in die Musikgeschichte hineinreichen als jener Orfeo von Monteverdi aus dem Jahre 1607, der im engeren musikästhetischen Sinne als erste Oper der Geschichte angesehen wird. Im Allgemeinen lassen sich Grenzen zwischen den

(musik)theatralen Gattungen nicht immer so leicht ziehen, generell muss aber auch davon ausgegangen werden, dass sich Musik in dieser Symbiose vor allem jeder isoliert ästhetischen Valorisierung entzieht: auch wenn sie von Beethoven stammt, wird jede Einschätzung im Sinne absoluter Musik ihrem Charakter nicht wirklich gerecht. Dass es da nicht nur von Epoche zu Epoche, sondern auch von Kultur zu Kultur Unterschiede geben muss, liegt auf der Hand.

Schauspielmusik als Gattung?

[...] Schauspielmusik verstanden als musikalische Gattung – das ist ein Phänomen, das sich tatsächlich weitgehend auf eine Epoche beschränkt, und für das nicht zufällig Beethovens Musik zu Egmont und Griegs Peer Gynt-Musik sinnbildlich sind – und ganz besonders natürlich Mendelssohns Musik zu Ein Sommernachtstraum. Kompositionen, die sowohl die Untermalung als auch den technischen Aspekt des Umbaus bedienen, aber mit Ouvertüren und Intermezzi ausgestattet sehr wohl für sich allein stehen können, was sie von anderen tatsächlich als «Musiktheater» konzipierten Gattungen unterscheidet. Sie werden inszenierungsorientiert geschaffen, wobei natürlich die Periode, in der sich eine Produktion im Reperoire befindet, vielfach über die heute im Schauspiel verbreiteten Standards hinausgeht, zumal auch das Theater des 19. Jahrhunderts in seiner Repertoiregestaltung eine überaus gegenwartsorientierte Kunst war, was das Schreiben von Schauspielmusik zwangsläufig in anderer Weise attraktiv für Komponisten macht.

Goethes Egmont – Beethovens Egmont?

Die Ursachen für das folgende Phänomen mögen gleichermaßen in der Rezeptionsgeschichte liegen wie in den Bildern, die wir von zwei Künstlern haben, die je als Säulenheilige ihrer jeweils eigenen Disziplin gesehen werden können: Johann Wolfgang von Goethe und Ludwig van Beethoven – der Dichterfürst und der Monolith unter den Tonsetzern. Es sind Klischees, Zuschreibungen, die den Einen eher als Feingeist erscheinen lassen, den Anderen als heißstirnigen Revolutionär. Dies ist nicht der Ort, die entsprechenden Bilder als Ganzes zu hinterfragen. Vielmehr seien sie angeführt, um zu erklären, warum sehr viele gebildete Mitteleuropäer beim Stichwort «Egmont» zuerst an Beethoven denken und erst etwas später an Goethe.

Die Geschichte des aufgeklärten Aufrührers am Vorabend des Achtzigjährigen Krieges verbindet sich zu gut mit dem Bild jenes Beethoven, der die Widmung seiner «Eroica» für Napoleon ausstreicht, als dieser in seinem Bewusstsein sein Volk und seine eigene Idee verrät, indem er sich selbst zum Kaiser krönt… Mit dem Schöpfer jenes Ausnahmedramas um das urmenschliche Streben nach Erkenntnis, des Faust, setzt nicht jeder den Egmont auf der Stelle in Beziehung. Dabei ist Beethovens Schauspielmusik zum Egmont weder die Einzige noch war sie ursprünglich als eigenständiges musikalisches Werk gedacht. Dennoch passt die Idee vom Komponisten einer «Gebrauchsmusik» nicht in unser Beethoven-Bild. Denn letztlich neigt der damit verbundene ästhetische Wertekanon dazu, zu vergessen, dass in der Entstehungszeit von Drama und Schauspielmusik, die Herstellung letzterer keinesfalls gering geschätzt wurde.

Goethe schrieb in Abständen ein gutes Jahrzehnt an dem Drama, das 1789 – immerhin im Jahr der französischen Revolution – seine Uraufführung erlebte. Beethoven schuf seine Schauspielmusik 1810. In der Tat sieht Goethe in seinem Drama sehr konkret Schauspielmusiken vor, die weit über ein illustratives Moment hinausgehen, als Nummern Bestandteil der Handlung sind, symphonisch anmutende Passagen, aber auch die Begleitung von handlungsrelevanten Pantomimen. Natürlich gab es, bevor Beethoven seine Schauspielmusik schrieb, andere Tonsetzer, die sich der Aufgabe stellten und auch nach ihm betätigten sich Komponisten auf dem Felde dieser sehr konkreten Gebrauchsmusik – doch nicht allzu viele, denn im Bewusstsein der Musikgeschichtsschreibung hieß dies letztlich, sich an Beethoven zu messen.

Es mag damit auch rein produktionstechnisch gewissen pragmatischen Gründen geschuldet sein, dass Egmont in der Gegenwart eher im Konzertsaal als auf der Theaterbühne zuhause zu sein scheint. Nicht selten – wie auch am heutigen Abend – in der Kombination aus Text-Auswahl und Ouvertüre. Auch wenn diese Ouvertüre in der Musikwissenschaft in ihrer Anlage und deren Interpretation in ungewöhnlichem Maße umstritten ist, so herrscht relativ große Einigkeit darüber, dass es sich um eine programmatische Ouvertüre handelt, also eine Auseinanderetzung mit der Dramenhandlung, nicht um absolute Musik. Dennoch folgt Beethoven gerade in diesem Werk in verblüffender Deutlichkeit dem Prinzip des Sonatenhauptsatzes.

Bei unvoreingenommener Betrachtung lässt sich angesichts dessen auch nur noch eine allenfalls vage Orientierung der Ouvertüre an der Dramenhandlung festmachen und der fast schon euphorisch zu nennende Charakter der Coda, der einen positiven Handlungsausgang erwarten lässt, legt nahe, dass sich Beethoven an Goethes Egmont-Bild reibt, diesem vielleicht doch eine andere Sicht auf die Figur entgegenstellen will. Schauspielmusik als Interpretation, also?

Wenn die Musik zum Akteur wird… Strawinskys Musiktheater über manch Unsagbares

«Musiktheater» – ein begrifflicher Fluchtpunkt, der die Musik- und Theatergeschichte des 20. Jahrhunderts in vielerlei Hinsicht prägt: Das eigene Werk einem solchen Genre zuzuschreiben ermöglicht es unzähligen Komponisten, einen Rahmen und gleichzeitig einen ästhetischen Anspruch zu postulieren, ohne sich etwa in die festgefügten Schranken einer Gattungstradition wie jener der Oper zu stellen, sich an deren – schlicht anderem – Anspruch messen lassen zu müssen, und dennoch gleichzeitig darauf zu insistieren, dass das geschaffene Ganze aus Musik, Text, Bühnenaktion mehr ist als jene Auseinandersetzung mit einem vorfindlichen Bühnentext, die eine Schauspielmusik ausmacht.

Igor Strawinskys Geschichte vom Soldaten kann mit Fug und Recht als Paradebeispiel herhalten für die genremäßige Wild Card «Musiktheater». Ein Musiktheater für kleines Ensemble aus Musikern, Sprechern, Tänzern, das gleichermaßen komplex ist und einfach daher kommt, das 1917 – also quasi unmittelbar im Kontext der Erfahrung des Ersten Weltkrieges – uraufgeführt wird, und einen Soldaten gleich im Titel hat: Man muss kein Hellseher sein, um zu erahnen, dass dieses Musiktheater äußerst vielschichtig und auch vieldeutig ist, auf der Basis zweier russischer Märchen quasi gleichnishaften Charakter entwickelt.

Dabei bedient sich der Komponist nahezu aller Möglichkeiten der Verbindung gesprochenen Textes mit Musik. Vielfältig – um nicht zu sagen, schier unbegrenzt – sind die Ansatzpunkte, die es ermöglichen, szenisches und klangliches Geschehen, Bewegung und eben Auslegungen zu verknüpfen. Vielleicht ist es entsprechend gerade die schmerzliche Zeitlosigkeit der Partiturvorlage gewesen, die diesem Ansatz von Musiktheater den Sprung ins große Repertoire versagt hat, vielleicht aber auch die nahezu paritätische Verschränkung des Theatralischen und Musikalischen, die Frage nach der Möglichkeit einer Partnerschaft der Künste auf Augenhöhe.

Tatjana Mehner arbeitet seit 2015 als Programme Editor in der Philharmonie Luxembourg. Sie studierte Musikwissenschaft und Journalistik, promovierte 2003 an der Universität Leipzig und war als Publizistin und Forscherin in Deutschland und Frankreich tätig.