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19 October 2011

"Total immersion" beim Cleveland Orchestra

by Philharmonie Luxemburg

 

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Ein langgehegter Wunsch geht in Erfüllung: Am 3. Januar 2010 zu Mittag startet mein Flug von New York nach Cleveland – eine mittelgroße, durchaus typische US-Mid-West Stadt am Ufer des Lake Erie gelegen. Von den bekannt grimmig kalten und schneereichen Wintern hatte ich im Vorfeld schon viel gehört, aber auch Schnee und Kälte konnten mich nicht davon abhalten, nach fast sechs spannenden Jahren an der Philharmonie Luxemburg eine Pause einzulegen, um für ein paar Monate in eine der traditionsreichsten amerikanischen Kulturorganisation einzutauchen. „Total immersion“ beim Cleveland Orchestra ist für die kommenden 5 Monate angesagt.

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Das Cleveland Orchester zählt neben den Orchestern von New York, Chicago, Boston und Philadelphia zu den fünf führenden amerikanischen Symphonie Orchestern. Gegründet wurde das Orchester im Jahr 1918 auf Initiative von wohlhabenden Bürgern der Stadt – im Jahr 1928 erfolgte dann auch die Grundsteinlegung für ein eigenes Konzerthauses – die Severance Hall benannt nach dem Stifter des Hauses, John Long Severance. Seit 1931 dient das architektonisch einzigartige Art-Deco Gebäude dem Orchester als Zuhause. Die Gründung des Orchesters und die ersten Jahrzehnte seiner Existenz fallen (-mit Rückschlägen während der großen Depression in den dreißiger Jahren) in eine Zeit der Hochblüte der Stadt Cleveland: eine florierende Ölverarbeitungs-, Stahl- und Autoindustrie lassen die Stadt zur fünftgrößten Metropole in den USA aufsteigen. Ihr Gesicht ändert sich grundlegend, neue Landmark-Gebäude und ganze Stadtviertel entstehen, die auch eine Sehnsucht nach kulturellen Werten in den privilegierten Bevölkerungsschichten widerspiegeln. Diese Gunst der Zeit in Verbindung mit der Arbeit seiner Musikdirektoren – hier allen voran George Szell, der 24 Jahre lang bis 1970 die musikalischen Geschicke des Orchesters geleitet hat - haben das Fundament gelegt, um das Cleveland Orchester zur Weltspitze zu führen. Was für das Orchester immer noch ohne Einschränkung gilt, kann nicht für die Stadt Cleveland behauptet werden. Das Ende des Booms der Nachkriegsjahre, aufkommende Rassenunruhen in den Sechzigern und die Stahlkrise zu Beginn der Siebziger markierten den Beginn eines fortwährenden Niedergangs der Stadt, der nicht untypisch ist für eine ganze Reihe an Städten in der Region, die deshalb in den Achzigern von der Öffentlichkeit mit der wenig ruhmreichen Bezeichnung „Rust belt“ bedacht wurde.

 

 

Von Luxemburg kommend, war es eine Frage, das mich am meisten interessiert hatte: wie kann ein Top-Orchester in diesem schwierigen Umfeld bestehen? Das Management des Orchesters hatte mich an meinem ersten Arbeitstag als „Orchestra Fellow“ mit typisch amerikanischer Offenheit begrüßt, die mich jedesmal wieder erstaunen ließ. Gary Ginstling, General Manager des Orchesters und meine Ansprechperson in den kommenden Monaten, hatte mich sofort ermutigt, in der Organisation zu „bohren“, um Abläufe kennenzulernen, und auch kritisch zu hinterfragen. Der erste Arbeitstag bot aber vor allem eine große Aufregung: ein drohender Streik der Orchestermusiker aufgrund von fundamentalen Differenzen mit dem Management bei der Neuverhandlung des Orchesterkollektivvertrages, der bereits im Sommer des Vorjahres ausgelaufen war.

 

"Die Bankenkrise von 2008 hat die Stiftungserträge schelzen lassen"

 

Der Gegenstand der Auseinandersetzung war wie ein Spiegelbild der Situation des Orchesters in Cleveland: wie bei fast allen US Orchestern erfolgt die Finanzierung der laufenden Kosten über Kartenerlöse und Erträge eines Endowment-Funds, also einer Stiftung, die aus privaten Spendengeldern finanziert wird. Die Publikumszahlen und damit die Kartenerlöse sind in den vergangenen Jahren kontinuierlich geschrumpft (-so wie die Einwohnerzahlen kontinuierlich weniger wurden: die Stadt Cleveland verzeichnet ein Minus von 17% zwischen 2000 und 2010; ein Teil des Rückgangs ist allerdings auf Migrationsbewegungen innerhalb des Großraums von Cleveland zurückzuführen). Und die Bankenkrise von 2008 hat die Stiftungserträge schmelzen lassen, wodurch sich die Institution in einer schwierigen finanziellen Situation wiederfand. Dem Vorschlag einer temporären Gehaltskürzung von 5% (-die für alle administrativen Mitarbeiter bereits im Jahr zuvor eingeführt wurde) lehnten die Orchestermusiker entschieden ab, da sie bei einer Kürzung um die Attraktivität des Orchesters für nationale und internationale Spitzenmusiker fürchteten...

 

Eine Einigung im Streit konnte nicht erzielt werden und so kam es nach wenigen Tagen dazu, dass die Musiker des Orchesters für zwei Tage – zum ersten Mal seit den achziger Jahren – die Instrumente niederlegten, um zu demonstrieren. Der Druck, sich doch noch zu verständigen, war für beide Seiten hoch, denn eine Verlängerung des Streiks um weitere Tage hätte eine Konzertreise des Orchesters gefährdet – mit fatalen Folgen für die gesamte Organisation. Wenngleich am Ende eine Einigung erzielt wurde (-ohne Gehaltsverzicht für die Musiker), zeigt dieses Beispiel trotzdem wie schwer es sein muss, ein Spitzenorchester an einem Ort zu erhalten, der einem derart starken Wandel unterzogen ist und dessen Perspektiven für die Zukunft unklar sind.

 

Was aber macht die Exzellenz dieses Orchesters aus?


Ich hatte das große Glück, jede Woche mehrere Konzerte des Orchesters zu hören und dabei seinen präzisen, homogenen Klang zu erleben, der dennoch niemals glatt und eintönig ist, sondern voll warmer Farben. Die Musiker des Orchesters verbindet eine einzigartige Arbeitsethik: ich hatte den Eindruck, als ob jeder Tag musikalisch besser sein müsse, als der vorangegangene und jeder einzelne versucht genau das täglich umzusetzen. Die Geschlossenheit und Einigkeit der Musiker bezogen auf das Klangbild des Orchesters wirkt wie eine verbindende, gemeinsam gelebte musikalische Vision.

 

 

Das Management wiederum sieht sich mit der Herausforderung konfrontiert, dem Orchester jenen Raum zu schaffen, in dem es weiter seinen künstlerischen Anspruch leben kann. Das passiert zum einen in Cleveland selber: mittlerweile in der dritten Saison spricht das Orchester erfolgreich neue Publikumsschichten mit neu geschaffenen musikalischen Angeboten an – sei es mit „Fridays@7“, Konzerten am Freitag um 19:00 mit klassischem Programm im ersten Teil und Weltmusik mit Orchestermusikern im zweiten Teil (-selbstverständlich mit Drinks und Cocktails im Saal) oder eine Celebreties-Series, wo Weltstars des Jazz gemeinsam mit dem Orchester auftreten oder in der Wiederaufnahme einer lange vergessenen Tradition der szenischen Aufführung von Opern im Konzerthaus…eine Herausforderung nicht nur für die Technik.

Andererseits arbeitet das Orchester daran, auch außerhalb von Cleveland regelmäßige Residenzen aufzubauen: am gewichtigsten ist diesbezüglich die Residenz des Orchesters in Miami, die seit dem Jahr 2007 besteht. Miami hat selber kein Orchester, empfängt aber mittlerweile dreimal im Jahr jeweils für zumindest eine Woche das Cleveland Orchestra für eine Reihe an Konzerten im neu gebauten Adrienne Arsht Center und verschiedenen edukativen Projekten in und für Schulen aus Miami. Der Kreis der Förderer aus Florida hat in der Zwischenzeit eine ganz fundamentale Bedeutung für die Existenz des Orchesters erlangt.

 

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In den Monaten, die ich im Jahr 2010 beim Cleveland Orchestra als „Fellow“ verbracht hatte, ist mit dem langsamen Herannahmen des Frühlings auch der Schnee dahin geschmolzen. Wichtiger als das haben diese Monate mir die Gelegenheit gegeben, von grundauf kennenzulernen, wie dieses Weltklasse Orchester funktioniert, wie die Musiker den einzigartigen Klang zusammenhalten, welchen Herausforderungen das Management sich gegenübersieht und mit welchen Antworten sie diesen Herausforderungen zu begegnen versuchen. Die Offenheit der Menschen, denen ich begegnet bin, hat mir sehr geholfen, diese Zeit als einen wertvollen und lehrreichen Abschnitt zu erleben. Umso grösser ist jetzt meine Freude, wenn Ende Oktober das Cleveland Orchestra wieder in der Philharmonie Luxembourg auftreten wird! (Die gesamte Tournee könnt ihr auf dem Blog des Orchesters verfolgen.)

Johanna Moeslinger